Gemeinsam singen tut gut. Neueste Forschungsergebnisse
gehen der heilsamen Wirkung des Chorsingens auf den Grund und verweisen auf sein großes Potenzial für Therapie und Prävention
Sing dich Gesund
Wir brauchen effektive Strategien, um mit gesellschaftlichen Problemen umzugehen», sagt Gunter Kreutz, Professor für systematische Musikwissenschaft an der Uni Oldenburg, «solche, die bei den Ressourcen der Menschen ansetzen.» Kreutz erforscht psychologische, körperliche und soziale Wirkungen des Singens und sieht großes Potenzial darin. Mit Blick auf die überalternde Gesellschaft, die steigende Stressbelastung in der Bevölkerung und die wachsende Zahl psychischer Erkrankungen glaubt Kreutz, dass es sich lohnt, die gesundheitsfördernden Wirkungen des Singens weiter zu erforschen.
Jeder, der eine Zeitlang im Chor war, kann die wohltuenden Wirkungen des Singens bezeugen - irgendwie fühlt man sich nach der Probe erfrischt, entspannter und besser drauf als davor und genießt das Gemeinschaftsgefühl in der Gruppe. Aber ist tatsächlich gesünder, wer regelmäßig singt?
Es gebe heute keinen einzigen wissenschaftlichen Beleg dafür, dass langjährige Chorsängerinnen seltener schwer erkrankten oder eine höhere Lebenserwartung hätten als Nichtsängerinnen, schreibt Gunter Kreutz in seinem aktuellen Buch «Warum Singen glücklich macht». Dennoch lieferten die Ergebnisse der wachsenden Zahl internationaler Studien übers Singen etwa aus England, Schweden und den USA Grund zum Optimismus.
So einfach wie die Wirkung eines neuen Medikaments lassen sich die Effekte von Chorsingen nicht testen, ist es doch ein hochkomplexer Vorgang, bei dem man neben den physiologischen Prozessen auch die sozialen Rahmenbedingungen und die psychisch-kognitive Ebene berücksichtigen muss. Aber gerade deshalb weist die Erforschung des Singens auch den Weg zu einer ganzheitlichen Betrachtungsweise von Gesundheit, wie sie die Weltgesundheitsorganisation definiert: Demnach sei Gesundheit ein Zustand körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit und Gebrechen.
Von den positiven Wirkungen des Chorsingens fürs geistige und soziale Wohlergehen zeugen qualitative Studien, in denen Sängerinnen über ihr Befinden Auskunft gaben. Dass die durchs Singen geschulte bewusste Atmung und verbesserte Körperhaltung helfen können, auch im Alltag Anspannungen und damit Stress zu mindern, leuchtet ebenso unmittelbar ein. Spannend wird es, wenn empirische medizinische Studienergebnisse chemische und neurophysiologische Prozesse beim Singen offenlegen.
CHORSINGEN ALS KOLLEKTIVESHERZ-KREISLAUF-TRAINING?
So zeigten Untersuchungen auf dem recht jungen Gebiet der Psychoneuroimmunologie, dass sich bei Singenden nach der Chorprobe sowohl die Stimmung verbesserte als auch die Konzentration von Immunoglobulin A im Speichel signifikant anstieg. Das Protein schützt die oberen Atemwege gegen Viren und Bakterien. Gleichzeitig sank die Konzentration des Stresshormons Cortisol. Bei einer Kontrollgruppe, die lediglich Chormusik von einer CD anhörte, verbesserte sich die Stimmung nicht und die Konzentration der Immunproteine stieg nicht an.
Mit der Stimmungsverbesserung beim gemeinsamen Singen gehen ein stärkeres Gruppengefühl und Entspannung einher: Gunter Kreutz zeigte in einer Studie mit Probandlnnen, die teilweise wenig Chorerfahrung hatten oder unter chronischen Erkrankungen litten, dass beim gemeinsamen Singen signifikant mehr Oxytocin ausgeschüttet wird als beim miteinander Reden. Das Hormon Oxytocin spielt eine wichtige Rolle bei sozialen Bindungen beispielsweise zwischen Mutter und Säugling, senkt Blutdruck und Cortisolspiegel, verringert die Auswirkungen von Stress indirekt und befördert ein Gefühl von Vertrauen.
Schwedische Wissenschaftler zeigten, dass sich zusammen mit der Atmung der Herzrhythmus unter Chorsängerinnen synchronisiert und das Singen eine beruhigende Wirkung auf den Herzrhythmus hat. Studien aus den USA wiederum zeigen, dass die regelmäßige Kopplung von Atmung und Herzfrequenz mittels spezieller Atemtechniken Angst-und Stressmindernde sowie antidepressive Effekte haben. Dies legt nahe, dass auch die fürs Singen notwendige kontrollierte Atmung solche Wirkungen erzielen kann.
Für Gunter Kreutz werfen all diese Ergebnisse vor allem weitere Fragen auf, die nur zukünftige Experimente beantworten können: Welchen Einfluss haben die gesungenen Liedtexte und Liedgattungen? Kann man neben kurzfristigen Verbesserungen des Wohlbefindens auch langfristige beobachten? Stärkt regelmäßiges Singen die Immunabwehr nachhaltig? Kann man Chorsingen als eine Art kollektives Training für den kardiorespiratorischen Apparat verstehen und bei Sängerinnen eine geringere Anfälligkeit für Herz-Kreislauf-Erkrankungen annehmen?
Was Forscher bislang an wasserdichten Beweisen für die positiven Auswirkungen des Singens in der Hand halten, ist womöglich nur die Spitze des Eisbergs. Doch Kreutz meint, es sei nicht schwieriger, die Wirksamkeit des Singens zu überprüfen, als etwa die gesundheitlichen Effekte von Jogging, Yoga oder Physiotherapie.
Auch wenn man noch längst nicht restlos erklären kann, wie es funktioniert, wird das Singen gezielt im klinischen Bereich eingesetzt. Seit 2009 engagiert sich der Verein «Singende Krankenhäuser» für ein Gesundheitswesen, in dem die heilsame Kraft des Singens erlebbar gemacht wird. Gegründet hat das Netzwerk der Musiktherapeut
Wolfgang Bossinger, der an der psychiatrischen Klinik im schwäbischen Göppingen schon lange Jahre eine integrative Singgruppe leitet, in der wöchentlich mittlerweile an die 100 Patienten, Angehörige und Klinikmitarbeiter beim gemeinsamen Singen auftanken.
Einen «Gesundheitserreger» nennt Bossinger das Singen, weil es Gefühlen wie Ohnmacht, Hilflosigkeit oder Einsamkeit, die oft mit schweren Erkrankungen einhergehen, das Erleben von sozialer Resonanz, Verbundenheit und Selbstwirksamkeit entgegensetzen und damit Selbstheilungskräfte aktivieren kann. In den vergangen Jahren hat sein Verein an die 150 Singleiterinnen dazu ausgebildet, Singgruppen in Gesundheitseinrichtungen leiten zu können. Dabei bieten die Dozentinnen Module für unterschiedliche Bereiche von Psychosomatik über Onkologie, Parkinson oder chronisch atemwegs-verengende Lungenkrankheit bis zu Kinderheilkunde an.
Singleiterin kann werden, wer im Gesundheitswesen therapeutisch oder pflegerisch tätig ist oder auch einfach seine Freude am Singen mit anderen Menschen teilen will. Gut 50 Krankenhäuser im deutschsprachigen Raum, an denen sich regelmäßig Singgruppen treffen, haben das Zertifikat «Singendes Krankenhaus» erhalten - der Gesundheitserreger infiziert unverkennbar.
Der Verein lässt sich in seiner Arbeit von einem wissenschaftlichen Beirat unterstützen, dem Forscher aus Musikpsychologie und Musikphysiologie genauso angehören wie Gesangslehrer, Phoniater, Neurobiologen und Psychiater. Einer von ihnen ist Eckart Altenmüller, der das Institut für Musikphysiologie und Musiker-Medizin an der Musikhochschule Hannover leitet. Der Neurologe und Flötist beschreitet mit dem Gebiet der Musiker-Medizin Wege zu einer ganzheitlichen Medizin, die sich auch Erkenntnissen aus anderen Disziplinen wie Körpertherapie oder Sprecherziehung öffnet.
«Singende Krankenhäuser» unterhält außerdem ein internationales Netzwerk, zu dem auch das Sidney de Haan Research Centre for Arts and Health gehört, 2004 gegründet vom Gesundheitswissenschaftler Steven Clift. Das innovative Forschungszentrum im südenglischen Canterbury führt nicht nur empirische Studien zu gesundheitlichen Auswirkungen gemeinsamen Singens durch, sondern systematisiert auch die bisherige internationale Singforschung und arbeitet daran, die Bevölkerung zu Präventionszwecken möglichst flächendeckend mit Singgruppen zu versorgen.
NACHWEISLICHE ERFOLGE BEI DER VOLKSKRANKHEIT «RAUCHERLUNGE
In einer über acht Monate dauernden Versuchsphase mit an chronisch atemwegs-verengender Lungenkrankheit (COPD) erkrankten Patienten, die unter zunehmender Atemnot und Husten leiden, konnte Clift nachweisen, dass sich bei regelmäßigem gemeinsamen Singen sowohl die Lungenfunktion als auch die gefühlte gesundheitliche Lebensqualität deutlich verbesserte.
Wenn Chorsingen bei COPD, einer auch als «Raucherlunge» bekannten Volkskrankheit - in Deutschland sind bis zu fünf Millionen Menschen betroffen - nachweislich helfen kann, legt das nahe, seine physiologischen und psychologischen Effekte nicht länger zu unterschätzen. Auch bei Aphasie, dem Sprachverlust infolge von Schlaganfällen, lässt sich das Singen einsetzen, um die Sprachfähigkeit zu reaktivieren. Grund hierfür ist die verstärkte Vernetzung der Hirnhälften beim Singen, wodurch brachliegende Bereiche wieder aktiviert werden können, erklärt der Neurologe Altenmüller.
Das große Gesundheitspotenzial des Singens ist nicht mehr von der Hand zu weisen, sowohl, was die Unterstützung von Heilungsprozessen in Ergänzung zu herkömmlichen Therapien als auch Prävention betrifft. Vielleicht wird es bald so weit sein, dass Krankenkassen neben Yoga oder Progressiver Muskelentspannung auch Chorgruppen als Vorsorgemaßnahme bezuschussen. Von den notwendigen wissenschaftlichen Belegen für die gesundheitsfördernde Wirkung sind wir nicht weit entfernt, auch wenn empirische Forschung Geld kostet, das aber - trotz guter Argumente - von knappen öffentlichen Kassen nicht immer vergeben wird.
Doch nicht die Forschung allein sei imstande, den Schalter umzulegen, sodass die dem Singen innewohnenden Potenziale in der Gesellschaft neu entdeckt werden, sagt Gunter Kreutz. «Das ist eine Generationenaufgabe. Ein notwendiger erster Schritt wäre, die Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern durch Einweisungen in die Kinderstimmbildung aufzuwerten», meint er, denn: «Singen fördert das körperliche, seelische und geistige Wohlbefinden nicht weniger als viele andere kulturelle Techniken.» Doch es gibt noch viel zu tun, damit an dieser eigentlich so einfachen Kulturtechnik möglichst viele teilhaben.